Die Kunst der Verbundenheit


Yoga als eine jahrtausende alte Tradition forscht nach dem
innersten Kern unseres Wesens. Alle Übungen des Yoga suchen die Antwort auf die Frage: „Wer bin ich?“ Die Wurzel des Wortes „Yoga“ ist „yuj“ und bedeutet verbindenEs geht um die Verbindung mit sich selbst, mit den Menschen, mit der Natur, mit deganzen Wirklichkeit.

Wir kennen alle die Körperübungen des Yoga, wir wissen, dass sie den Körper flexibel und geschmeidig machen und die Haltung verbessern können. Wir wissen, dass Yoga insgesamt einen positiven Effekt auf unsere Gesundheit hat, dass es gegen Stress hilft, dass es entspannund ausgleichend wirkt auf Geist und Gemüt.

Doch es ging den Menschen um weitaus mehr, als sie sich vor über 3000 Jahren den Methoden und Praktiken gewidmet haben, die später weiter entwickelt wurden und heute noch als Yoga bekannt sind.

Keinen Augenblick unseres Lebens existieren wir unabhängig und isoliert von der vibrierenden Fülle des Seins, dessen Teil wir sind. Yoga fragt danach, wie wir in Beziehung sind mit dem, was uns umgibt. Wie sind die Wechselwirkungen, in denen wir leben? Und wie sehr sind wir uns dieser Verbindungen gewahr?

Yoga fragt weiter nach dem, was uns daran hindert, diese Verbundenheit bewusst zu erleben. Was trennt uns von uns selbst und von den anderen? Wieviel von dem Gesamtgeschehen, innerhalb dessen wir leben, können wir direkt erfahren? Wie können wir das Eingebunden-Sein in ein größeres Netzwerk bewusster erlebenUnd wie gelingt es, nicht in Sorge, Widerstand und Abgrenzung zu leben, sondern unser Herz zu öffnen und im Einklang zu leben?

Das Yoga-Sūtra von Patañjali ist die älteste, uns überlieferte systematische Abhandlung über Yoga und dessen Methoden. Es entstand vor ungefähr 2000 Jahren. Mit dem Yoga Sūtra fasste Patañjali die Erkenntnisse über die reine Erfahrung der Wirklichkeit zu einem einheitlichen Lehrsystem des klassischen Yoga. Patañjali beschreibt wie wir dazu reifen können, eine direkte Einsicht zu bekommen in die Wahrheit des Seins mit ihrer ganzen Schönheit und Fülle. Er analysiert die Situation wie unser Geist gewöhnlich arbeitet und welche Dynamik unsere Sicht auf die Welt und damit unser Verhalten im Alltag bestimmt. Er beschreibt, was uns an einer klaren, umfassenden Wahrnehmung der Wirklichkeit hindert. Er zeigt auf, dass eine enge Perspektive Leid verursacht. Schließlich nennt er Mittel und Wege, die es erlauben, sich von leidvollen Verstrickungen zu lösen. Mit dieser Freiheit wird nach und nach eine unbefangene, offenherzige Verbundenheit mit der Realität möglich. Durch die Klarheit einer fließenden Gegenwärtigkeit zeigt sich in der Tiefe die Fülle des Seins und unser wahres Selbst.

Patañjali definiert Yoga gleich zu Beginn als das „Still-Werden der geistig-seelischen Bewegtheit“. Was bedeutet das? Wird die geistig-seelische Bewegtheit still, bekommen wir etwas Abstand zu unseren ganz individuellen Sorgen und Ansichten. Wir sind nicht mehr so verstrickt mit unserem Ego. Es öffnet sich eine Sichtweise in unsbei der wir nicht allein mit dem Kopf schauen, sondern mit dem Herzen sehenUnsere Perspektive wird weit, unsere Einsicht wird klar. Mit unserem „Geist“ erfassen wir die Realität intellektuell. Doch es gibt eine Ebene in uns, mit der wir zu einer umfassenderen Erkenntnis zu gelangen im Stande sind. Manchmal wird diese Ebene als „HerzGeist“ bezeichnet. Im Herzen wird der Geist wissend,“ heisst es im Yoga-Sūtra.

Wenn wir aufmerksam in unser Geishineinschauen, bemerken wir, dass unsere Aufmerksamkeit selten kontinuierlich auf das gerichtet ist, was gerade geschieht. Wir springen von Eindruck zu Eindruck. Oft sind wir gleichzeitig mit verschiedenen Gedanken beschäftigt, während wir etwas Bestimmtes tunDieser Umstand wird beschrieben als Subtext zu einer Handlung, oder man spricht von „Kopfkino“. Zuweilen wird diese Zerstreuung und Aufsplitterung unserer Aufmerksamkeit als „Multitasking“ gelobtNicht selten verlieren wir uns sogar gänzlich an unsere Tagträume. Wie sollten wir unter solchen Voraussetzungen die volle Weite und Tiefe der Erfahrung, in der wir stehen, wahrnehmen?

Wenn es uns jedoch in einem Moment vollkommenen Gewahrseins gelingt, uns von deReichtum des Erlebens berühren zu lassen, rührt sich etwas in uns, das vergleichbar ist mit dem Aufgehen der Sonne. Und wir erleben eine umfassende Freude. Diese Freude benötigt keinen bedingten Anlass. Sie ist sich selbst. Sie ist einfach da. Sie blüht auf schon alleindurch die Tatsache der Verbundenheit, zu der wir uns geöffnet haben.

Yoga gibt uns Mittel an die Hand, die uns helfen, die Wirklichkeit des gegenwärtigen Augenblickdirekt und unverstellt wahrzunehmen und zeigt uns Wege, wie wir unseren Geist beruhigen können. Yoga unterstützt uns auch im Alltag, eine klare Sicht zu entwickeln durch die Bewusstheit für unseren Körper, für unsere Atmung und für die Bewegungen unseres Geistes und EmotionenWenn wir die Mittel des Yoga aufmerksam, stetig und kontinuierlich in unseren Alltag integrieren, wirunsere Sicht auf die Realität klarer, umfassenderunser Herz offener und wir verstehen allmählich besser, wer wir in einem gemeinsamen Ganzen sind.

Yoga ist Ankommen im „Herz des Seins“. Yoga bedeuteteine Verbindung herzustellen zwischen dem, was geschieht und unserer inneren Mitte. Diese Mitte ist die Mitte von Allem. Wir können unser Handeln aus der Verbindung mit dieser Mitte heraus geschehen lassen. Dann wird unser Handeln aus einegrößeren Verstehen motiviert und bekommt eine neue Qualität im Licht der Schönheit, die unserer gemeinsamen Existenz zugrunde liegtDie Suche nach dem verlorenen Glück, das viele von uns kennen und tief in sich tragen, kann auf diese Weise einen Hafen finden.

Yoga handelt vom Ankommen und deWeg zum Ankommen.

Foto: Paco Yoncaova