Das lebendige Netzwerk des Seins

Seit Wochen werden wir zu fassungslosen Zeugen eines grausamen Vernichtungskrieges in der Ukraine. Was tun, wenn das Unfassbare geschieht und die Zerbrechlichkeit von Frieden offenbart, wenn die Verunsicherung wächst und das Entsetzen groß ist? Was hat uns Yoga zu bieten in einer Zeit existentieller Verunsicherungen?

In New York wurde Françoise Gilot nach den grauenvollen Angriffen 2001 bei einem Interview gefragt, wie man angesichts so zerstörerischer Handlungen und der Bedrohung durch Gewalt noch Kunst betreiben kann. Sie antwortete, sie fasse das Leben und die Malerei als Suche nach dem Glück auf. Nach den Terroranschlägen habe sie, als Mensch wie zerschmettert, als Künstlerin eine Woge von Energie in sich gespürt, ein intensives Gefühl für den Sinn ihrer Arbeit, bei denen zu sein, die schöpferisch sind und die Werte des Lebens immer neu beschwören und nicht bei denen, die zerstören.

Ein zentrales Thema der Bhagavad Gītā ist Brahma Vidyā, das Wissen um den Urgrund allen Seins. Wie kommt dieses Wissen Tag für Tag in unseren Beziehungen zum Ausdruck, wie kommt es zur Anwendung? Wie ist eins mit dem anderen verbunden? In welchem Netzwerk von gegenseitigen Wirkungen und Beziehungen stehen wir? Antworten auf diese Fragen bilden den Hintergrund der Lehren der Bhagavad Gītā. Sie gibt uns eine Fülle von Impulsen für ein Yoga mitten in unserem alltäglichen Leben mit seinen Beziehungen und Konflikten, mit seinen Freuden und seiner Schönheit, mit seiner Fülle, seinen Werten, mit seinen Herausforderungen und den hoffnungsvollen Ausblicken.

Bei der ersten Annäherung an die Gītā mag sie uns heutzutage zunächst befremden – und angesichts eines Krieges mitten in Europa sogar unpassend und anachronistisch erscheinen. Einerseits mag ihre kriegerische Rahmenhandlung und die patriarchale Sprache darin eine Hürde darstellen, andererseits die Dialogform mit einem leibhaftig auftretenden Gott in der Person des Krishna. Die allegorische Form der Gītā erschwert uns den Zugang zu ihr, zumal die Bilder nicht aus unserem gewohnten Kulturkreis stammen. Ohne weitere Kommentierung und Erklärungen ist sie für uns schwer zugänglich. Wenn wir die Gītā verstehen möchten, müssen wir durch die äußeren Schichten ihrer Bildersprache hindurch dringen.

Vielleicht können wir den Dialog mit einem leibhaftigen Gott nicht mit unserer aufgeklärten Haltung, unserer Gewohnheit an ernste Informationssprache in Übereinstimmung bringen. Und sicherlich sind kriegerische Handlungen abschreckend und verabscheuungswürdig. Doch wie Bede Griffiths in seinem Kommentar feststellt: „Seit alters hat man diese Schlacht symbolisch interpretiert. … Das Schlachtfeld ist das Feld des Lebens.“

Hier ist nicht zuletzt der Kampf angesprochen, den wir in uns selbst und gegen uns selbst führen. „In der Schlacht des Lebens sind wir gegen uns selbst angetreten,“ schreibt Griffiths weiter. Wir kennen, dass wir uns oft im Kampf mit uns selbst, mit den Nächsten um uns und mit den Gesetzen des Lebens befinden. Wir wollen uns mit unserem persönlichen Willen behaupten, wir wollen etwas erlangen, erreichen und beherrschen. Die Gītā spricht davon, diese Ebene der Auseinandersetzung zu überwinden. Die sich wiedersprechenden Bedürfnisse und Beweggründe in einem selbst, dürften den meisten vertraut sein. Schon im Neuen Testament wird gesagt: „Ich tue nicht das Gute, das ich tun will, sondern das Böse, das ich nicht tun will.“ (Röm. 7.19)

Äußerlich findet der Kampf in der Gītā wie auch im täglichen Leben auf dem Feld der Aktionen statt, kurukṣetra, wie es in der Gītā genannt wird – das Wort „kuru“ ist verwandt mit „karma“, handeln. Auf einer tieferen Ebene spielt sich der Kampf im eigenen Inneren ab. Das Äußere bietet nur die Projektionsfläche. Der Kampf, den wir äußerlich fechten, ist oft in Wirklichkeit ein Kampf in uns selbst und mit uns selbst. Es ist ein Kampf, den wir führen, weil wir uns als getrennt von allem anderen erleben (asmitā, YS 2.3). Die tiefere Wahrheit darin zu erkennen führt uns zu einer neuen Dimension des Verstehens, zu neuen Verhaltensformen und Lösungsansätzen. Das ist die Anwendung des Yoga im täglichen Leben.

Hier sei ein kurzer Überblick über die Rahmenhandlung und die Gliederung der Bhagavad Gītā gegeben: Die Gītā ist eines von achtzehn Büchern des großen Epos Mahābhārata. In diesem Epos wird, sinnbildlich für die Grundthemen des Menschseins, die Geschichte einer königlichen Familie erzählt, die sich durch eine verwickelte Erbfolge über Genrerationen hinweg in eine Familienfehde verstrickt. Schliesslich stehen sich zwei Stränge ein und der selben Familie gegenüber. Die eine Partei hält sich durch List und Vertragsbruch an der Macht, während die anderen ihr legitimes Recht einfordern auf den Anteil des Königreichs, der ihnen zugesprochen war. Die einen sind getrieben von Herrschsucht und eigennützige Motive wie Gier, Neid und Rachsucht. Die anderen sind bemüht um ein ehrbares Verhalten in Einklang mit den gegebenen Normen von Moral und Ordnung. In diesem großen Drama symbolisieren die zwei Seiten die widerstreitenden Kräfte in einem jeden von uns Menschen.

Auf der einen Seite, stehen der blinde König als Ahnherr und seine Söhne, die mit allen Mittel an der Macht festhalten wollen. Auf der anderen Seite der Familienlinie steht der Königssohn Arjuna mit seinen Brüdern. Im Vorfeld des entscheidenden Kampfes treten Arjuna und sein Kontrahent Duryodhana an Krishna heran, der für die Inkarnation göttlicher Weisheit und Erkenntnis steht. Beide bitten den Prinzen Krishna um Beistand. Während Arjuna sich für Krishna als neutralen Berater an seiner Seite entscheidet, wählt und bekommt der Sohn des blinden Königs die gesamte Armee des Prinzen zur Verstärkung.

Die Episode der Gītā beginnt in dem Moment, in dem beide Seiten zum Krieg gegeneinander auf dem Feld angetreten sind. In dieser Situation erkennt Arjuna: Ich und sie, sie und ich, wir sind eins und unsere Schicksale hängen zusammen. Hier beginnt die Lehre, die die ganze Auseinandersetzung in eine andere Dimension hebt.

Alle Analysen, alle akademischen Erkenntnisse, alle Informationen über Zusammenhänge und Fakten bleiben von begrenztem Nutzen, wenn wir nicht ein Verständnis dafür entwickeln, welche Grundmotive uns bewegen und wie sie im Alltag wirken. Hier bietet uns Patañjali mit den verschiedenen Elementen des Yoga eine ganze Reihe von praktischen Ansätzen, um die subtilen Tiefen unserer Erfahrungen auszuloten. Die Kontemplation (dhyāna) spielt eine besondere Rolle dabei, wahre Freiheit zu erlangen und die Verstrickung in unterschwellige Motive zu überwinden (YS 2.11). Und zwar, weil sie das Vehikel ist, mit dem wir die Ebene der Worte verlassen und in die tiefsten Tiefen gelangen, wo wir mit der Essenz des Lebens verbunden sind. Allgemein lässt sich für alle Erfahrungen in täglichen Begegnungen und Handlungen sagen, dass „die stetige Beobachtung wie Bewusstseinsaktivitäten aufkeimen, dem Geist eine stabile Ruhe“ gibt (YS 1.35), aus der heraus Einsicht und Verstehen erwächst. Dies ist die erste Voraussetzung für Transformation.

„Alle Wesen im eigenen Selbst und das eine Selbst in allen Wesen zu schauen, bedeutet, im Yoga gefestigt zu sein,“ sagt Krishna in der Bhagavad Gītā 6.29. Erst wenn wir unser Selbst-Verständnis reflektieren und neu erfahren, erschließen sich andere Perspektiven und Handlungspotenziale. Sich von den Fesseln alter Prägungen, Neigungen, gewohnter Handlungen und ihrer Auswirkungen zu befreien, gelingt nur durch eine Transformation des Ichs. Mehr und mehr kann dann unser Handeln dem Wohle aller in einem Netz von Beziehungen und der Ganzheit des Lebens auf dieser Erde dienen. „Nur wenn der Akteur richtig ist, kann das Handeln richtig sein… Yoga befasst sich damit, wie sich der Handelnde zu einem guten Akteur entwickelt“, schreibt Ravi Ravindra.

Die Beseeltheit in der Tiefe unseres Seins zu suchen und zu erfahren, bedeutet keine Weltflucht. Sie ist eine wichtige Voraussetzung und Zutat, um „draußen“ in der Welt weise und einfühlsam, konstruktiv und heilsam zu handeln. Auch in einer Zeit von Krieg und Elend, Vernichtung, Leid, Verzweiflung und Zorn ist die Einsicht in die tiefste Essenz in uns selbst diejenige Quelle, aus der wir Hoffnung und Kraft schöpfen. Die Beseeltheit in uns selbst zu erkennen, die nichts anderes ist als die Beseeltheit in allem, kann uns als Leitschnur für unsere Entscheidungen und Handlungen dienen.

Bezüglich der zerstörerisch prekären Situation, in der wir uns momentan in Europa befinden, schrieb eine Journalistin Anfang März: „Wladimir Putin hat einen Krieg begonnen, aber alle tragen die Verantwortung dafür, Frieden zu schaffen.“ Wenn uns die Wirklichkeit in eine Situation stellt, in der existentielle Grundlagen ins Wanken geraten, gibt uns die Verbundenheit mit der Lebensessenz die Kraft, dem Ungewissen und Unbeherrschbaren zu begegnen. So können wir erkennen, wie hier und heute einfühlsam und weise zu handeln ist. Wenn wir das Leben in der Tiefe verstehen, können wir weise Entscheidungen treffen, was unser Beitrag sein kann für den Frieden in uns und in der Welt.

 

oṃ śāntiḥ śāntiḥ śāntiḥ


Osman, März 2022

Foto: privat